Aller Anfang ist schwer.

Humoreske von Paul Bliß
in: „Teplitz-Schönauer Anzeiger” vom 12.02.1910


Fritz Haller brauchte einen neuen Winterrock, unbedingt brauchte er ihn, denn der alte war schäbig.

Aber Fritz Haller hatte kein Geld und ebensowenig hatte er Kredit.

Also blieb ihm nur eine Möglichkeit, seinen alten gegen einen neuen „umzutauschen”.

Als er nach langem Sinnen zu diesem Resultat gekommen war, sah er nun wohl einen Ausweg aus seiner Klemme, aber erleichtert fühlte er sich durchaus nicht, denn er hatte niemals ein derartiges Kunststück gemacht, und deshalb war ihm das Herz recht beklommen.

Zaghaft betrat er ein Restaurant.

Es war um die Mittagszeit. Menschen kamen und gingen.

Fritz Haller suchte sich einen Platz in der Nähe eines der vielen Garderobenständer, und während er langsam aß und trank, beobachtete er die neuankommenden Herren, um ein für seine Zwecke dienliches Objekt zu finden.

Endlich nach langem Warten kam ein sehr elegant aussehender Herr, dessen Winterrock dem aufmerksamen Fritz Haller als der am besten passende erschien.

Nicht weit von ihm nahm der Herr Platz, nachdem er den Rock an den Garderobenständer gehängt hatte.

Unauffällig, aber mit klopfendem Herzen verfolgte er jede Bewegung des anderen.

Plötzlich stand der Herr auf und ging nach der Toilette.

Jetzt oder nie — Schnell zahlt Fritz Hasller, nahm alle seine geistesgegenwart zusamme, zog den Winterrock des anderen an und verschwand.

Er zitterte am ganzen Körper. Aber alles ging glatt vonstatten. Niemand merkte etwas, denn jeder hatte mit sich zu tun. Und glücklich kam er hinaus.

Es war gelungen!

Als er in seiner Wohnung war, atmete er erleichtert auf und fing schon an zu lachen, denn die Sache machte ihm jetzt beinahe Spaß. Nie hätte er gedacht, daß so etwas so leicht zu vollführen wäre.

Und nun besah er in aller Ruhe, was er da eingetauscht hatte.

O, er konnte zufrieden sein

Der Winterrock war neu und elegant, und die Hauptsache, er paßte vorzüglich — wie für ihn gemacht, so gut saß er. In den Taschen steckte zwar nichts.

Doch in der Brusttasche harrte seiner eine kleine Überraschung. Ein duftiges rosafarbenes Briefchen fand er da.

Lächelnd zog er es heraus.

Es war noch nicht geöffnet. Auf dem Kuvert stand: „Almorosa 360. Postamt 6”

Immer fröhlicher wurde er.

Zweifelsohne ein Liebesbrief, den der Herr eben erst vom Postamt 6 abgeholt hatte, um ihn in der Kneipe in Ruhe zu lesen.

Lächelnd öffnete er den Brief und las:

Amorosa 360.

Ich bin bereit, Ihnen ein Rendezvous zu geben. Bitte morgen Mittags zwölf Uhr am Floraplatz. Tragen Sie bitte diesen Brief in der Hand.

Noch immer lächelte er, und sein herz bebte vor Freude.

Ein Abenteuer, ein galantes Abenteuer, wie er es sich schon seit langer Zeit so sehnend gewünscht hatte!

Nie hatte er gewußt, wie er zu so einem Vergnügen kommen könnte, denn er war noch jung und unerfahren, und nun fiel es ihm so leicht in den Schoß!

Ehrlich erfreut und beglückt war er.

Natürlich würde er hingehen nach dem Floraplatz und sich die holde Amorosa näher besehen! Das stand bereits fest bei ihm. Und das konnte er ja auch getrost riskieren, denn der Herr, an den der Brief gerichtet war, hatte ja keine Ahnung von dem Platz des Rendezvous, da er den Brief noch nicht geöffnet hatte.

Glückstrahlend rieb er sich die Hände und lief hin und her.

Gegen Abend ging er wieder aus. Doch hütete er sich wohl, die Kneipe aufzusuchen, in der er heute Mittag den famosen Tausch gemacht hatte; jetzt ging er in ein ganz anderes Stadtviertel.

Stolz und selbstbewußt trat er auf. Der neue Rock erheischte eine gewisse Würde.

Behaglich ging er in ein Restaurant, um zur Nacht zu essen. Und dann saß er träumend vor seinem Glas, zog das rosa Briefchen vor und besah die schöne, zierliche Schrift wieder und wieder.

Ganz enthusiasmiert war er, und seine rege Phantasie spiegelte ihm hundert schöne Stunden vor, die er von nun an mit der Holden durchkosten würde.

Weit weg trugen ihn die Gaukelbilder, und mit klopfendem Herzen dachte er; Wenn es doch nur erst morgen mittags wäre, daß ich die Holde sehen könnte!

Nichts von seiner Umgebung sah und hörte er, immer nur bei seinem Rendezvous waren die Gedanken.

Gegen elf Uhr dachte er ans Heimkehren.

Er zahlte, stand auf und trat an den Garderobenständer.

Doch was war denn das!?

So groß war sein Schreck, daß er ganz starr und sprachlos dastand.

Dort vor ihm hing sein alter Winterrock.

Er zitterte am ganzen Körper und war dem Weinen nahe. Aber es half nichts, er mußte sich zusammennehmen, um sich nicht zu verraten.

Doch bevor er sich entschloß, sandte er noch ein paar spähende Blicke nach dem neuen umher — aber umsonst, nirgend war er zu sehen.

Endlich blieb ihm nichts weiter übrig, er mußte seinen alten Rock wieder anziehen.

Alle seine Hoffnungen, alle seine Freude war dahin. Nun konnte er das Wagnis des Vertauschens von neuem beginnen. Gräßlich war es!

Aber auf einmal leuchtete doch ein heller Freudenschimmer durch: Gott sei Dank, daß er das rosa Briefchen in die Rocktasche gesteckt hatte! So hatte er sich wenigstens das Rendezvous für morgen gerettet!

Langsam und sinnend ging er dahin.

Plötzlich entdeckte er in der Seitentasche ein Stückchen Papier. Neugierig zog er es heraus. Es war beschrieben.

An der nächsten Laterne las er

„Junger Mann,

Sie sind offenbar noch ein Anfänger. Aber Sie haben Pech Sie sind an den Unrechten gekommen. Ich arbeite nämlich selber in dieser Branche. Natürlich habe ich Sie in meinem Rock sofort wiedererkannt, und somit habe ich schnell den Umtausch besorgt. Lernen Sie daraus, wie man es nicht machen soll!
Ein älterer Kollege.”

Fritz Haller war wütend. Nun hatte er zu dem Ärger auch noch den Spott!

Und er mußte es sich gefallen lassen, daß ein alter Rockmarder ihn Kollege nannte!

Hohnlachend und ergrimmt ging er heim.

Und erst als er zu Hause wieder das rosa Briefchen ansah, da erst schwand sein Ärger, denn er hatte bei dem Erlebnis wenigstens eins gewonnen — dies schöne Mädchen!

Am andern Mittag pünktlich zwölf Uhr war er am Floraplatz. Doch noch niemand war zu sehen. Nur ganz hinten standen plaudernd ein paar Schutzleute.

Wartend stand er und blickte gespannt um sich, denn die Holde mußte ja jeden Augenblick kommen.

Und wirklich, sie kam, aber nicht allein, sondern in Begleitung eines sehr schneidigen Herrn.

Fritz Haller erschrak. Er ahnte, daß die sache nicht so glatt ablaufen würde. Schon wollte er verschwinden. Doch er trug das rosa Briefchen in der Hand. Und so hatte man ihn bereits erkannt.

Energisch trat der Herr auf ihn zu.

„Sie haben es gewagt, meiner Nichte einen Liebesbrief zu schreiben! Wie kommen Sie dazu? Meine Nichte ist so gut erzogen, daß ich ihr keinen Augenblick mißtraue. Sicher hat sie Ihnen gar keine Veranlassung gegeben, ihr in so dreistem Tone zu schreiben! Anfangs wollten wir Ihren Brief einfach ignorieren, schließlich aber ließ ich Ihnen die Antwort unter „Amorosa” zusenden, um Sie kennen zu lernen und Ihnen diese Lektion zu erteilen. So, nun verteidigen Sie sich!”

Starr stand er da, rot wie ein Schulbube.

Was sollte er denn sagen? Er wußte ja doch von der ganzen Sache gar nichts!

„Nun, so reden Sie doch!” rief der Herr wütend, „sagen Sie mir wenigstens, woher Sie meine Nichte kennen!”

Da antwortete Fritz Haller leise bebend: „Das alles ist ein Irrtum, mein Herr! Ich habe gestern aus Versehen einen falschen Rock genommen, in dessen Tasche ich das Briefchen fand.”

„Aber das reden Sie doch einem anderen vor! — ich sehe schon, Sie wollen sich herausreden. — Jetzt gehen Sie hin und bitten Sie die Dame um Verzeihung.”

„Ja, aber ich habe der Dame doch gar nicht das Geringste zugefügt!”

Da sagte der Herr nichts mehr. Aber im nächsten Augenblick hatte Fritz Haller ein paar so derbe Ohrfeigen im Gesicht brennen, daß er wie betäubt auf eine Bank taumelte.

Als er wieder zu sich kam, war er allein, nur drüben standen kichernd die Schutzleute.

Und da schlich er bebend in einen Seitenweg und sagte sich: Aller Anfang ist schwer.

Dann ging er seufzend weiter.

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